Vergeben nicht vergessen

Unser Leben besteht aus aneinandergereihten Erfahrungen. Aus einer Kette von Aktionen und Reaktionen. Und aus Wertungen früherer Verhaltensweisen. Wir sind große Künstlerinnen und Künstler darin, uns selbst Vorwürfe zu machen, uns zu kritisieren für früheres Verhalten. Wenn wir genauso großartig darin wären, uns für Verhalten zu loben, würden diesen Planeten lauter glückliche Menschen bewohnen.
Wenn wir wenigstens etwas toleranter mit uns ins Gericht gehen würden, wäre schon vieles einfacher. Aber uns selbst gegenüber sind wir unbarmherzig. Anderen Menschen könnten wir vergeben, könnten ihnen Wege aufzeichnen, wie sie anders agieren könnten. Uns selbst gegenüber lassen wir diese Gnade nicht walten, uns verurteilen wir komplett. Und nicht nur unser Verhalten, sondern wir werten uns als Mensch sofort mit ab. „Versager“, „Blöde Kuh“, „Dummes Ding“, „Vollidiot“, usw.
Diese Bewertungen implementieren, dass wir uns früher mit voller Absicht und wider besseres Wissen verhalten haben. Aber das stimmt nicht. Allem was Menschen tun, liegt erst einmal eine positive Absicht zugrunde. Wir haben mindestens einen guten Grund dafür. Aus der Rückschau ist es leicht, Dinge anders zu sehen, Folgen die aus dem Verhalten entstanden sind als logisch zu betrachten. Aber das stimmt nur aus der Sicht der Zukunft. In dem jeweiligen Moment haben wir so gehandelt, wie es uns gerade am sinnvollsten erschien.
Ich erinnere mich noch an meine Selbstverurteilung, weil ich einen „falschen“ Mann geliebt habe. „Das war doch klar, das hättest Du sofort sehen können, wenn Du nicht die Augen verschlossen hättest.“ Aber ganz ehrlich, verlieben wir uns in falsche Personen und das mit Absicht? Oder zum Thema Aufträge: „Du wusstest doch, dass der Kunde nicht passt. Ihr habt doch von vornherein Verständigungsschwierigkeiten gehabt.“ Soll ich nicht daran glauben dürfen, das Menschen sich ändern?
Wir spielen uns als Richter:innen auf ohne daran zu denken, dass auch diese Zeit und Episode in der Zukunft von uns wieder anderes bewertet wird. Es ist so einfach, in dem jeweiligen Moment Richtig von Falsch zu trennen, uns zu bestrafen. Auch wenn dieser Impuls uns Menschen deshalb angeboren ist, damit wir schlimme Erfahrungen nicht zweimal machen, passt er nicht zu uns und unserem Alltagsleben. Denn es geht in den seltensten Fällen um Leben und Tod. Es geht um eine spätere Sicht auf ein früheres Verhalten.
Deshalb ist es so wichtig, diese Beurteilung zu stoppen. Uns heute nicht dafür zu bestrafen, dass wir früher anders gehandelt haben. Statt dessen geht es um Vergebung. Darum uns selbst zu vergeben, dass wir damals so agiert haben. Erfahrungen als das zu sehen, was sie sind, nämlich Reflexionen an denen wir wachsen und lernen. Wenn wir es schaffen, uns selbst auch für „Dummheiten“ zu vergeben, uns genauso liebevoll in den Arm zu nehmen, wie wir es in diesem Moment bräuchten, dann sind wir einen großen Schritt weiter.
So wie wir auch mit anderen erst wieder in einen guten Kontakt kommen, wenn wir uns gegenseitig nach einem Kampf vergeben haben, so kommen wir auch mit uns selbst erst wieder in einen guten Kontakt, wenn wir uns selbst vergeben. Es hilft, unser früheres Ich und sein Verhalten als eine andere liebenswerte Person zu sehen, statt eines Feindes der in seine Schranken gewiesen gehört. Es geht um Vergebung, nicht um Vergessen.